*Nachfolgender Text stammt aus: Flug in All, Ulf Merbold, Gustav Lübbe Verlag, Jubiläumsausgabe 1988, Seiten 292-295. Er dient als Ergänzung zum Porträt und Gespräch mit Ulf Merbold „Forschungssubjekt“.

Einen noch größeren Sprung hätte eigentlich Professor Walter Littke von der Universität Freiburg machen müssen. Er hatte sich jahrelang in Labors bemüht, sehr große organische Einkristalle herzustellen – jedoch immer vergeblich. Das Ziel seiner Versuche war sehr naheliegend. Er wollte ergründen, wie die atomare und molekulare Beschaffenheit bestimmter Enzyme aussieht. In der genauen Kenntnis der atomaren Struktur liegt der Schlüssel zum Verständnis, wie die Enzyme bei der Steuerung der biochemischen Reaktionen wirken.

Bisher weiß man darüber so gut wie noch nichts. Gelingt es aber, das
Geheimnis zu lüften, so steht vielleicht in einigen Jahren eine Revolution in der Pharmazie bevor. Dann könnten Medikamente zielgerichtet entwickelt werden, und man bräuchte sie nicht mehr durch empirisches Ausprobieren vieler verschiedener Verbindungen zu finden.

Ulf Merbold, 1983

Mit seinem Spacelab-Experiment unternahm Littke den Versuch, den atomaren Aufbau des Enzyms Beta-Galaktosidase zu erforschen. Beta-Galaktosidase ist im Körper von Säuglingen wirksam. Dieses Enzym spaltet im Verdauungskanal schon in geringster Konzentration den Milchzucker in Traubenzucker und Galaktose auf, und nur sie können vom Darm aufgenommen werden. Das ist für ein Kleinkind lebenswichtig, da der Milchzucker eines der grundlegenden Kohlehydrate für seine Ernährung ist.

Littke interessierte nun die Frage, wie es möglich ist, dass so geringe Quantitäten eines Enzyms so große Wirkungen zeigen können. Um hinter dieses Geheimnis zu gelangen, wollte er erfahren, wie die daran beteiligten Stoffe atomar aufgebaut sind und auf welche Weise sie miteinander reagieren. Für solche Untersuchungen der atomaren Struktur gibt es die Methode der Röntgenbeugung.

Sie wurde 1912 durch Professor Max von Laue entdeckt, der dafür 1914 den Nobelpreis für Physik erhielt. Da die körpereigenen Eiweiße, wie alle organischen Verbindungen, aus den leichten Atomen Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff und Stickstoff aufgebaut sind, beugen sie den Röntgenstrahl nur schlecht. Die einzige Möglichkeit, genügend Röntgenlicht in die gebeugten Strahlen zu bekommen, besteht darin, zur Beugung einen großen Einkristall zu verwenden. Bei seinen Versuchen gelang es Littke aber nie, einen genügend großen Einkristall herzustellen.

Eiweißkristalle werden aus einer Lösung gezüchtet. Walter Littke benutzte ein Reaktionsgefäß mit zwei Kammern. In eine Kammer war die gesättigte Eiweißlösung, in die andere eine Ammoniumsulfat-Lösung eingefüllt. Um einen Einkristall zu züchten, wird ein Schieber, der die beiden Kammern voneinander trennt, herausgezogen. Nun kann das Salz in die Proteinlösung und das Protein in die Salzlösung eindringen. Kommen Protein und Salz zusammen, wird das Eiweiß aus der Lösung ausgefällt. Damit sich ein Kristall bilden kann, muss erst ein Kristallisationskeim entstehen.

Unter irdischen Bedingungen erhielt Littke stets viele kleine Kristalle. Offensichtlich hatten die Keime an mehreren Stellen eine kritische Größe erreicht, was dazu führte, dass Kristalle wuchsen. Da die Lösungen unterschiedliche Dichte haben, hatte die Konvektion eingesetzt und zur Durchmischung der beiden Flüssigkeiten beigetragen, und zwar so, dass an vielen Stellen Keime entstanden.

Littke folgerte, dass sich im Weltraum bessere Chancen boten, statt vieler kleiner Kristalle einen oder nur wenige große zu erhalten. Die von der Schwerkraft angetriebene Konvektion würde ausbleiben, so dass der Stofftransport allein auf Grund von Diffusion erfolgte. Dann sollte das Löslichkeitsprodukt nur an einer Stelle überschritten werden.

Die Überlegung war richtig, denn es gelang Littke auf Anhieb, Kristalle zu erhalten, die 27mal größer waren als der größte Kristall, den er bisher hatte. Damit haben sich die Aussichten wesentlich verbessert, das hochkomplizierte Molekül der Beta-Galaktosidase, das immerhin ein Molekulargewicht von 465 000 hat, in seinem atomaren Aufbau zu verstehen und am Ende seinen Wirkungsmechanismus zu erklären.

Im Falle des leichteren Proteins Lysozym – Molekulargewicht 15000 – waren Littkes Kristalle sogar um das Tausendfache größer gewachsen. Dass es gelungen war, große Protein-Einkristalle herzustellen, beeindruckte vor allem die Amerikaner sehr. Die amerikanische Industrie informierte sich umgehend über Littkes Methode und das Ergebnis seines Experiments. Eine Reihe großer amerikanischer pharmazeutischer Firmen sowie Forschungsinstitute und Universitäten
unterzeichneten mit der NASA ein Abkommen, das vorsieht, dass in den nächsten Jahren viele Experimente zum Züchten von Protein-Einkristallen vorgenommen werden.