*Nachfolgender Text stammt aus: Flug in All, Ulf Merbold, Gustav Lübbe Verlag, Jubiläumsausgabe 1988, Seiten 297-299. Er dient als Ergänzung zum Porträt und Gespräch mit Ulf Merbold „Forschungssubjekt“.

Ein anderes Experiment, das schon kurz nach dem Flug Furore machte, stammte von Augusto Cogoli, einem Wissenschaftler an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich. Cogoli vermutete, daß die Lymphozyten, die weißen Blutkörperchen, die bei der Abwehr insbesondere von Infektionskrankheiten eine außerordentliche Rolle spielen, in der Schwerelosigkeit nicht so aktiv werden wie am Erdboden. Das hätte bedeutet, daß Infektionen in der Schwerelosigkeit weniger wirksam abgewehrt werden als auf der Erde. Die Lymphozyten haben die Aufgabe, in den Körper eingedrungene Keime abzutöten.

Der Schweizer Wissenschaftler hatte uns eine Kultur von lebenden Lymphozyten in einem auf 37 Grad Celsius thermostatisierten Behälter, einem Inkubator oder Brutkasten, mitgegeben. Sie sollten durch ein sogenanntes Mitogen zur Vermehrung angeregt werden. Durch die Zugabe des Mitogens wurde quasi die Infektion des Organismus substituiert.

Ulf Merbold, 1983

Unter irdischen Bedingungen erreicht die Vermehrungsrate etwa 60 Stunden nach der Zugabe des Mitogens ihren Höhepunkt. Sie kann dadurch bestimmt werden, daß zu diesem Zeitpunkt Thymidin in die Kultur eingebracht wird. Thymidin ist eine der vier Basen, mit denen in der Desoxyribonukleinsäure (DNS) die Erbinformation gespeichert wird. Wird davon viel verbraucht, haben sich die Zellen stark vermehrt – und umgekehrt.

Zwei Stunden später wurde die Kultur von uns eingefroren. Das Thymidin war mit dem Wasserstoffisotop Tritium radioaktiv markiert. Anhand der Radioaktivität der Zellen konnte schließlich die Vermehrungsrate gemessen werden.

Es stellte sich heraus, daß sich die Kulturen im Spacelab im Vergleich zu Lymphozytenkulturen vom gleichen Spender am Boden so gut wie überhaupt nicht vermehrt hatten. Der Zuwachs der Lymphozyten betrug nur drei Prozent jenes Zuwachses, den die Vergleichskultur am
Erdboden erreichte.

Als Cogoli die Messdaten sah, war er zunächst entsetzt. Er glaubte nämlich, daß seine Lymphozytenkultur im Weltraum abgestorben sein müsse und sich deshalb nicht vermehre. Schließlich gelang es ihm, den Verbrauch an Glukose zusätzlich zu bestimmen. Es stellte sich heraus, dass die Lymphozytenkultur, die im Weltraum war, in etwa so viel Traubenzucker konsumiert hatte wie die Vergleichskultur am Erdboden.

Damit wurde bewiesen, daß die Lymphozyten im Weltraum einen ganz normalen Stoffwechsel hatten und durchaus lebten. Es hatte sich nur gezeigt, daß die Schwerelosigkeit ihre Vermehrungsfähigkeit drastisch einschränkte. Das war ein hochinteressantes wissenschaftliches Ergebnis für die Medizin.

Neun Tage unserer Mission waren wahrlich wie im Fluge vergangen. Wir hatten unsere Experimente durchgeführt. Manche Hindernisse hatten sich uns in den Weg gestellt, doch die meisten Probleme hatten wir lösen können. Es hatte sich dabei erwiesen, dass es sehr vorteilhaft
ist, Menschen als Nothelfer zur Verfügung zu haben. Stimmen, die behaupteten, man brauche keine Menschen mehr im Weltraum, weil Automaten zuverlässiger und billiger seien, waren verstummt. Zum Beispiel waren von den 72 Experimenten etwa die Hälfte auf das fehlerfreie Arbeiten des Werkstofflabors angewiesen. Ohne unsere
wiederholte Pannenhilfe hätte dieses gewiß sehr leistungsfähige
Gerät vermutlich überhaupt nicht funktioniert.

Dazu kamen andere Experimente, die durch ein Eingreifen der Besatzung zum Erfolg gebracht wurden, obwohl sie zeitweise zu scheitern schienen – so etwa die Arbeiten mit der Metrischen Kamera oder dem Rotierenden Dom.

Nun hatten wir noch den geschenkten zehnten Tag zur Verfügung. Diese zusätzlichen vierundzwanzig Stunden machten uns glücklich, denn sie gaben uns die Chance, die Dinge, die wir hatten abbrechen müssen, um im Zeitplan zu bleiben, nun doch noch zu erledigen. Bob und ich machten der Flugleitung unter anderem den Vorschlag, die kalorische Reizung des Vestibularorgans zu wiederholen. Dies wurde gebilligt, und erst jetzt stellte sich endgültig und für alle überzeugend heraus, daß der Kalorische Nystagmus auch in de¡ Schwerelosigkeit auftritt. Bis dahin hatte es immer noch Zweifel gegeben. Ohne die von uns initiierte Wiederholung am zehnten Tag wäre man vielleicht auf der alten Theorie von Barany sitzengeblieben.