Professor Jürgen Bolten
Professor Jürgen Bolten

Wer in ein Land einwandert, hat persönliche Not und sieht zunächst mit einer Vielzahl unvertrauter und vielleicht auch verunsichernder Situationen konfrontiert. Das ist unsichtbar für alle diejenigen, die die Zuwanderinnen gar nicht kennen. Ihnen sind die Ankommenden unvertraut. Entsprechende Fremdheitsempfindungen rufen oft Reaktionsweisen wie Skepsis oder Vorurteilsdenken hervor – nicht in böser Absicht, sondern einfach nur, um mit der neuen Situation umgehen zu können. Dass solche Reaktionsweisen durchaus politisch wirksam werden können, zeigt unter anderem die aktuelle Situation in Thüringen.

Nun hat sich das Thüringer Sozialministerium vorgenommen, auf diese Situation zu reagieren. Umsetzen soll das die Uni Jena im Rahmen des Projekts „Weltoffen miteinander arbeiten“ (WOM). Wir sprachen mit Professor Dr. Jürgen Bolten vom Bereich für Interkulturelle Wirtschaftskommunikation der Universität Jena über ein paar Hintergründe.

Professor Jürgen Bolten
Professor Jürgen Bolten

Herr Bolten, was befeuert diese Anti-Stimmung gegenüber internationalen Fachkräften in Thüringen? „Wir haben es mit einem Dilemma zu tun. Einerseits haben wir eine gewaltige demographische Lücke vor uns, wenn man bedenkt, dass bis 2030 voraussichtlich 300.00 Arbeitskräfte in den Ruhestand gehen, aber derzeit nur 150.00 potentielle Nachwuchskräfte ausgebildet werden. Das heißt, wir sind auf Zuwanderung, auch international angewiesen, um wirtschaftlich existenzfähig zu bleiben. Andererseits werden sehr deutlich Ressentiments gegenüber internationalen Arbeitskräften laut, was zu einem entsprechenden Image des Landes führt. Das schreckt interessierte internationale Fachkräfte eher davon ab nach Thüringen zu kommen.“

„Drastisch führt die Situation auch die Tatsache vor Augen, dass wir gegenwärtig in Thüringen täglich durchschnittlich 82 Sterbefälle, aber nur 48 Geburten registrieren. Hinzu kommt die niedrigste Arbeitslosenquote seit 1990.“ 

Aber einfach so irgendwelche Maßnahmen ausdenken – kann das funktionieren? „Nein, es geht vor allem darum, mit Fakten über die wirtschaftlich prekären Aussichten zu informieren. Wichtig ist es aber auch, Skepsis gegenüber Fremdem dadurch zu überwinden, dass man es kennenlernt. Kontakte, gemeinsame Projekte, beispielsweise, können hier äußerst hilfreich sein – für beide Seiten.  Wir dürfen nicht Eigenes und Fremdes polarisieren. Es nützt nichts, zu postulieren, internationale Arbeitskräfte einzustellen. Es kommt auf die Plausibilität, auf die Balance an.“

Mit Balance meint er, dass sich beide Seiten kennenlernen müssen. Nur so könne die Mammutaufgabe gelingen. Einfach nur Plakate aufhängen, würde nicht viel bringen. Und so setzen er und seine Kolleginnen vor allem auf den Alltag. „Wir wollen alle dazu animieren, miteinander etwas zu tun. Das kann alles mögliche sein, und selbst außerberufliche kleine Projekte wie gemeinsam etwas Backen oder die Umgebung zu erkunden zählen dazu.“  

Das Jenaer Projekt stellt vor allem Thüringer Betriebe in den Mittelpunkt. Entwickelt werden zahlreiche Maßnahmen, die hauptsächlich mittelständischen Unternehmen dabei helfen sollen, ein konstruktives Miteinander zwischen den bestehenden Belegschaften und den dringend benötigten neuen Arbeitskräften nachhaltig zu realisieren.

Die Uni will auch unterstützen, dass Teilnehmende internationaler Freiwilligendienste und internationale Praktikant*innen von Thüringer Betrieben als potentielle künftige Fachkräfte entdeckt werden können. Gleichzeitig könnten durch den zunächst kurzzeitigen Kontakt „Vorbehalte und Ängste aller Beteiligten abgebaut werden.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Bolten!

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