Foto ©Kevin Carden - stock.adobe.com
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„In unserer Gesellschaft wird schnell über andere geurteilt und verurteilt. Wir leben keine Fehlerkultur und so ist es angesagt, sich über Gescheiterte zu erheben“, beginnt Pedro Holzhey von SET-FREE unser Gespräch. SET-FREE ist ein Netzwerk für Gefangene. „Die Not der Betroffenen ist immens, das kann man sich gar nicht vorstellen. Und das System verfolgt nicht wirklich die Absicht, Straffälliggewordenen zu helfen.“

Pedro Holzhey war selber mal inhaftiert. Er kennt die Nöte hinter Gittern. Und so bezeichnet sich Holzhey als Wasserträger, der denen eine Lobby gibt, die keine haben: den Strafgefangenen. Er will die Gesellschaft informieren und Fehleinschätzungen zum Justizvollzug korrigieren. Zudem setzt er sich für einen Vollzug ein, der viel bessere Reintegrationsquoten hat als es die deutschen je haben werden – wenn sich nichts ändert. Ein sehr erfolgreiches Vorbild hat er auch, nämlich das brasilianische APAC-Modell. Aber er stößt beim Wassertragen auf hohe Hürden.

Doch fangen wir mal bei den Betroffenen an, um zu verstehen, dass deren Not wirklich groß ist, und dass unsere Gesellschaft Vereine wie SET-FREE braucht. Stichwort Untersuchungshaft: Die löst einen Inhaftierungsschock bei den Betroffenen aus. „Keiner sitzt auf seinen Koffern und wartet auf die Polizei.“ Demzufolge werden die Menschen abrupt aus ihrem Leben gerissen – aus welchen Gründen auch immer. Traumatisierend sei diese Erfahrung gerade für deren Kinder und Familien. Und in den ersten Tagen nach der Inhaftierung geht draußen oft alles den Bach hinunter.

Eine Firma zum Beispiel hat plötzlich keinen Chef mehr. Eine Familie keinen Vater. „Das scheinen alles Randerscheinung zu sein, die aber in Summe zu einer Katastrophe werden, die keiner alleine bewältigen kann. Dann leiden die Inhaftierten natürlich auch unter ihrer Haftstrafe und ihrer Tat. Jeder bräuchte vom ersten Tag an eine Begleitung, um das Geschehene und das Leben neu zu sortieren, es aufzuarbeiten. Wie konnte es denn überhaupt so weit kommen? Wie komme ich da wieder raus? Doch in Deutschland werden die Inhaftierten damit im Wesentlichen allein gelassen.“

Die wenigen Fachkräfte im Strafvollzug hätten – so Holzhey – lediglich eine Alibifunktion. Teilweise komme auf bis zu 200 Fälle nur ein Sozialarbeiter. Oder anders ausgedrückt: Ein Sozialarbeiter habe mit 200 Katastrophen zu tun.

Das sind schädliche Rahmenbedingungen für ein Vorhaben, das ehrenwert ist, nämlich die Reintegration von Straffälliggewordenen in unsere Gesellschaft zu optimieren. „Aber da, wo Hilfe nötig wäre, gibt es sie nicht. Dieses Bedürfnis findet im Gefängnis keine Resonanz. Hier herrscht Misstrauen so weit das Auge reicht. Denn man kann sich ja keinem anvertrauen.“

Sozialarbeiter, Psychologen, Ärzte – alle sind gehalten, jede entsprechende Wahrnehmung weiterzumelden, die als relevant betrachtet wird. Die Folge? Lieber gar nichts sagen. Oder nur das, von dem man meint, es schade nicht. Und in diesem Zusammenhang versucht SET-FREE, gute Alternativen aufzuzeigen und die Gesellschaft, Politik und Justiz dafür zu öffnen. Oft genug wird aber lieber geglaubt, dass es keine guten Alternativen gibt – weil das einfacher ist… Aber es ist nicht billiger.

Seine Maxime: Sozialen Frieden herstellen und diesen erhalten, anstatt brachial zu bestrafen. Dem sozialen Frieden ist viel mehr gedient, wenn nach heilsamen Lösungen für Opfer und Hinterbliebene gesucht wird, wenn es Formen der Wiedergutmachung gibt.

Es geht auch besser

In Brasilien gibt es seit 50 Jahre ein Modell, als Alternative zum herkömmlichen Strafvollzug, das um Klassen besser sei als das unsrige. „Nur will es hier in Deutschland keiner haben – es kommt ja aus Brasilien“, resumiert Holzhey. Was macht deren Modell so erfolgreich? „Die beiden Säulen Liebe und Disziplin. Mit ganz viel Zuwendung und Wertschätzung versuchen die Betreuer die Insassen wieder in ein normales Leben zurückzuführen. Aber sie fordern auch vieles ein: beispielsweise konsequentes Mitmachen. Sieben Tage in der Woche gibt es von morgens 7 bis 22 Uhr Programm. Es wird fast rund um die Uhr mit den Menschen gearbeitet – und wenn es sein muss über Jahre und Jahrzehnte hinweg.“

In deutschen Gefängnissen sollen die Betroffenen oft in ihren Zellen sitzen, die Wand anstarren oder Fernsehen schauen, stimmt das? „So ist es leider in vielen Fällen, vor allem während der Untersuchungshaft oder wenn der Betroffene keine Arbeit hat. Bei den vermeintlich vielen Behandlungsmaßnahmen, auf welche die Justiz hinweist, handelt es sich nicht etwa um ein ganzheitliches Konzept, sondern um Kleinstmaßnahmen, die für nur ganz wenige Teilnehmer infrage kommen. So gelangen etwa nur cirka drei bis vier Prozent der Insassen in eine therapeutische Maßnahme. Die restlichen über 90 Prozent haben das Gefühl, ihre Haftzeit nur mehr oder weniger sinnlos abzusitzen. Wenn solche Inhaftierte dann entlassen werden, sind sie oft krank, frustriert und lebensuntauglicher. Was soll denn daraus entstehen, außer wiederholter Straffälligkeit?“

Sind die Rückfallquoten in Brasilien denn tatsächlich niedriger? „Im brasilianischen Normalvollzug nicht. Dort sind sie noch höher als in Deutschland. Aber in den APAC-Resozialisierungszentren liegen sie bei nur 20 Prozent. Im Vergleich dazu wird die Rückfälligkeit in Deutschland mit cirka 50 Prozent und im Jugendvollzug sogar mit cirka 70 Prozent angegeben. Unsere Gefängnisse produzieren also quasi einen „Ausschuss“ von 50 beziehungsweise 70 Prozent. Unternehmen mit einem solchen Ausschuss hätten schon längst Insolvenz anmelden müssen. Doch im Strafvollzug wird so getan, als sei das richtig und normal.“

Holzhey bezeichnet die Arbeit von SET-FREE auch als Sisyphusarbeit, „an der wir schon viele Jahre dran sind.“ Und er erklärt es so: In der Gesellschaft herrscht eine große Gleichgültigkeit gegenüber dem Vollzug. Erschwerend kommt hinzu, dass hier eine Grundhaltung des Bestrafens vorherrscht. Umfragen unter jungen Jurastudenten zufolge wollen ein drittel die Todesstrafe zurück und zwei drittel befürworten unter bestimmten Bedingungen die Anwendung von Folter.

Kann man etwa sagen, dass ein Teil der künftigen Staatsanwälte und Richter eine zweifelhafte Einstellung gegenüber unserem Rechtsstaat hat? „Das Ergebnis der Untersuchung ist erschreckend, weil eine derartige Grundeinstellung das Wesen unserer Demokratie und des Rechtsstaats erschüttert. Ausgerechnet Anwärter auf die mächtigsten Posten in unserer Justiz öffnen hierdurch Abgründe, die in der deutschen Geschichte schon einmal viel Unheil angerichtet haben und die wir so schnell nicht wieder schließen könnten, wenn ihnen das gestattet würde.“

Resüme

Tabuthema Gefängnis – ein schwieriges Terrain. Opferschutz und der Umgang mit Tätern stehen immer wieder in der Diskussion. Doch helfen wir einer Gesellschaft tatsächlich, wenn wir die so genannten Sünder in jedem Fall und unterschiedslos wegsperren? Oder wäre eine wertschätzende Zuwendung oft das viel bessere Mittel gegen das, was wir alle nicht wollen: Rohheit, Kriminalität, Morden und Gewalt – nämlich als bewusster Gegenpol zu dem, was eine Straftat ausmacht?

Trügerische Sicherheit: Zu glauben, ein Gefängnisaufenthalt könne nur anderen widerfahren, ist sehr trügerisch. „Das kann manchmal schneller gehen als gedacht. Wenn man sich vor Augen führt, wie schnell man jemanden unvorsichtig überfahren könnte. Oder man geht in einer falschen Straße und wird in eine Schlägerei verwickelt. Wäre man einen anderen Weg gegangen, wäre nichts passiert.“

Holzhey ist sich sicher: Jeder ist fähig, Gutes und Böses zu tun. Und es sind auch die unterschiedlichsten Faktoren, von denen es abhängt, was zum Vorschein kommt oder was für immer verborgen bleibt.

„Aber auch das Handeln einer Gesellschaft und der Politik hat eben Konsequenzen. Wir sollten auch nach dem Verursacher namens Gesellschaft fahnden“, gibt Holzhey zu bedenken. Bestrafen und Einsperren allein helfe eben nicht. In den vergangenen 30 Jahren sind die Strafen zwar regelmäßig verschärft worden, doch die Rückfallquote ist gleich katastrophal geblieben.

Der Verein SET-FREE und Holzhey kämpfen für Alternativen, die dazu beitragen, dass die Rückfälligkeit gesenkt werden kann und die damit einen Beitrag zum sozialen Frieden leisten. Verurteilen und Urteilen über andere ist leichter, als versuchen zu verstehen und ein Umgang im Geiste der Menschenwürde. Vielleicht braucht ein jeder von uns dieses Verständnis auch irgendwann einmal.