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Polizei und Ehlrichkeit (Foto © fottoo - stock.adobe.com)

Die Polizei müsste doch viel zum Thema Ehrlichkeit sagen können. Ich sprach dazu mit dem Ersten Kriminalhauptkommissar vom Polizeipräsidium Frankfurt am Main, Alexander Kießling. Das, was er verraten hat, war menschlicher als gedacht und weniger gesetzestreu als vermutet. Denn auch seine Kollegen und Kolleginnen übertreten im Dienst schon mal die rote Linie. Und dann gibts was auf die Finger – intern natürlich. Eigentlich doch sehr sympathisch. Anlass war der Tag der Ehrlichkeit (30. April). Wie steht es also um diese Tugend aus Sicht der Polizei?

Berufspendler, die die Adickesallee als Ein- und Ausstieg von Frankfurt benutzen, kommen täglich zwei Mal an Alexander Kießling vorbei. In Höhe des nuklearmedizinischen Zentrums und des Amtes für Wohnungswesen sitzt er im Polizeipräsidium und geht seiner Berufung nach. Seiner Berufung? Ist das nicht etwas übertrieben? Doch, zugegeben, das ist übertrieben – und auch wieder nicht. Herr Kießling ist einer, dem sein Job Spaß macht. Weil er um die Ambivalenz von Ehrlichkeit weiß. Er weiß, dass sie dehnbar ist. Dass sie der Wahrheit nicht entspricht und auch nicht ihr Produkt ist, das sich am Ende noch durch Zwei teilen ließe.

Dennoch: Ehrlichkeit ist dort in diesem Gebäude an der Adickesallee (in unmittelbarer Nähe zur Frankfurt School) omnipräsent. In all ihren Facetten. Die Holzhammermethode werde zu ihrer Erreichung aber nicht angewendet, betont er. Man sei sich durchaus bewusst, dass der Mensch ein Mensch ist und kein Roboter. Des Menschen Handeln sei geprägt von seiner Vergangenheit. Robustes Verurteilen bringe wenig. Und er sagt weiter: „Wir erreichen mehr, wenn wir ein Auge zudrücken, als mit Härte das Gesetz anwenden“.

Warum ist das so? Jeder hat seine eigene Wahrheit. Und an die kommt man behutsam schneller ran als mit Druck. In der Strafprozessordnung steht ja drin, dass man sich nicht selbst belasten muss. Das impliziert, dass man auch lügen oder sogar die Aussage komplett verweigern kann, ohne dass es einem zum Nachteil gereicht. Natürlich entscheidet am Ende der Richter, ob Daumen hoch oder runter. Je nachdem, inwieweit der Täter ihn überzeugen konnte.

Das sind dann die persönlichen Sichtweisen und Wahrheiten des Richters, die entscheiden? So kann man das sagen. Denn der ist in seiner Urteilsfindung frei. Das hat aber nichts mit Ehrlichkeit zu tun. Hier geht es um Beweise und Indizien. Die entscheiden. Und jeder weiß, dass die größte Lüge, wenn sie gut und plausibel vorgetragen wird, in einen Freispruch münden kann. Wenn einer eine Geschichte erzählt, die ihm eigentlich keiner glauben kann, sich der Richter aber nicht überzeugen lässt von dem was der Staat, also zum Beispiel die Polizei, ihm präsentiert, hat der Täter gewonnen.

Dann haben wir es mit einer ehrlichen Lüge zu tun? Ja, aber auch das Gegenteil kann passieren. Es geht letztendlich nur um Argumente. Wir als Polizei tragen nicht die Fahne der Ehrlichkeit vor uns her. Wir sind angehalten, beide Arten von Beweisen zu finden, die belastenden und die entlastenden. Und wenn sich der Angeklagte zur Verhandlung plötzlich zu Schwiegermamas Liebling gemausert hat, blitzeblank geschniegelt und gepflegt erscheint, haben wir als polizeiliche Zeugen schlechte Karten. Denn auch wir erkennen manchen Angeklagten nicht wieder, wenn er vorm Richter steht. Da hat Ehrlichkeit absolut keinen Platz. Nur Fakten und Beweise zählen, die den Richter zu einer Meinung bringen werden. Als ich noch auf dem Revier war, hatte ich viele Leute, die wirklich wild aussahen. Die waren runtergerissen, Ringe unter den Augen, alkoholisiert und ungepflegt. Dann erscheinen die vor Gericht und sind wie ausgewechselt. Haben den feinsten Anzug an, waren beim Frisör, sind rasiert und sitzen dann so da.

Aber das ist doch auch gut so, dass es diese Toleranz gibt, oder? Stimmt, das ist das Gute an unserem Rechtsstaat, dennoch sind das keine ehrlichen Strategien. Denn Sie müssen bedenken, dass die Verteidigung Akteneinsicht hat. So überlegen sie sehr virtuos, wie sie die belastenden Momente entkräften können.

Da stellt sich die Frage, welche Straftat die schlimmere ist…  
…. die Unehrlichkeit der Verteidigung oder die des Täters. Wahrscheinlich wiegt beides gleich schwer. Ehrlichkeit spielt da eine sehr geringe Rolle.

Und wie gehen junge Polizisten damit um? Ich glaube, dass Leute, die zur Polizei gehen, schon einen gewissen Sinn für Gerechtigkeit haben. Der wird in der polizeilichen Ausbildung und im Berufsalltag auch gefördert, keine Frage. Letztendlich sind wir uns als Polizei schon einig, dass es gut wäre, wenn man mit Dingen ehrlich umgehen würde. Aber mal Hand aufs Herz: Ist das nicht auch ein Spiegel der Gesellschaft? Wer will denn mal die Wahrheit sagen? Wer hat dazu denn den Mut?

Recht hat er, der Alexander Kießling!

Hat er  kapituliert? Nein, ich habe nicht kapituliert, auch nicht meine Kolleginnen und Kollegen. Wir lieben unseren Job.

Und dann spricht er über das Fach Ethik bei der Ausbildung. Aber da gehe es um andere Dinge, sagt er. Und worum geht es da, frage ich. „Hier lernen wir interkulturelle Kompetenz. Hier lernen wir, wie wir mit Menschen umgehen und auch mit den unterschiedlichen Ethnien – gerade in Frankfurt. Diese Kompetenzen wurden früher nicht so in den Vordergrund gestellt. Denn heute sind unsere Gesellschaften sehr bunt geworden. Rund 180 Nationen sind in dieser Stadt zu Hause. Und deshalb müssen wir uns als Polizei damit auseinandersetzen. Wir brauchen eine neue Sicht auf die Gesellschaft, um mit ihr und in ihr zu leben und zu arbeiten.“

Denn wie gesagt, die an der Adickesallee im Polizeipräsidium wenden nicht die Holzhammermethode an. Man ist sich dort durchaus bewusst, dass der Mensch ein Mensch ist und kein Roboter. Des Menschen Handeln sei geprägt von seiner Vergangenheit. Robustes Verurteilen bringe oft wenig.

Sie drücken also ein Auge zu abhängig von der Herkunft eines Menschen? Na ja, sagen wir mal so: Natürlich gibt es Grenzen bei Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten. Aber wir haben Ermessensspielräume. Manchmal ist eine mündliche Verwarnung nachhaltiger – zunächst. Denn es geht ja vornehmlich um die Resozialisierung, egal in welchem Fall. Klar sollen Täter ihre Tat sühnen, aber vornehmlich sollen sie wieder Mitglied der Gesellschaft werden. Dazu werden in den Gefängnissen entsprechende Prozesse angestoßen.

Ist das denn realistisch, wenn man die geringen Erfolgsquoten des Vollzugs kennt? Sie haben Recht. Viele werden von ihrer Vergangenheit eingeholt. Das muss ich ehrlicherweise sagen. Und das ist ein Problem. Es gibt welche, die es packen, aber das sind die wenigsten. Nehmen wir Drogenabhängige im Bahnhofsviertel. Eine Therapie kann nur gelingen, wenn der Alltag umgekrempelt wird. Der Lebensrhythmus muss anders werden. Raus aufs Land. Tiere sind auch immer sehr gut.

Aber auch die Ehrlichkeit zu sich selber ist wichtig, oder? Absolut – das ist der erste Schritt, wie ich finde. Denn viele betrügen sich ja selber. Sie wissen, ja ich bin süchtig, ja ich sollte damit aufhören, ja werde davon sterben. Das erkennen die schon. Aber das wird schnell wieder verdrängt. Jeder biegt sich seine Wahrheit zurecht. Die Kriminologie untersucht, woher die Straftaten kommen. Keiner begeht sie, weil sie es wollen. Als mögliche von sehr vielen Ursachen wären da Zwänge oder Macht und Bereicherung zu nennen. Der Betrüger sagt sich: Der andere bekommt sein Auto von der Versicherung erstattet. Ich tue nichts Schlimmes. Aber auch aus Frust werden Straftaten begangen. Da werden Häuser und Gegenstände nur aus dieser Emotion heraus angesteckt. Sich selbst gegenüber das ehrlich einzugestehen, wäre ein erster Schritt.

Die spannendste Antwort auf die spannendste Frage folgt jetzt. Welche rote Linie übertreten ihre Kollegen und Kolleginnen denn schon mal im Dienst, Herr Kießling? Haben Sie schon mal ein Polizeiauto im Halteverbot vorm Bäcker stehen sehen und zwei Kollegen kamen seelenruhig mit Brötchen aus dem Geschäft?

Und damit endet das Gespräch schmunzelnd, nicht nur nachdenklich in Sachen Ehrlichkeit.

Vielen Dank, Herr Kießling!