
„Mich nervt die Verdammung der Adipositas unglaublich“, sagt Professor Johann Christoph Klotter. „Adipöse werden zu Unrecht stigmatisiert und diskriminiert“. Seit vielen Jahren versucht Klotter den Blick auf das Dicksein zu verändern und kommt schleppend voran. Denn es gebe bei Experten noch immer den Konsens, dass die Adipösen böse und maßlos seien und der Gesellschaft, sprich dem Gesundheitssystem, auf der Tasche lägen.
„Adipositas wird unglaublich diskriminiert. Hier bin ich auf Mission, um das etwas anders zu konzipieren.“
Christoph Klotter arbeitet an der Hochschule Fulda als Ernährungspsychologe. Seine Liste an Publikationen ist schillernd, und deren Titel einladend. Denn sie lassen uns denken, als wisse Klotter, wo der Ernährungsschuh bei den Menschen drückt. Da stellt er Fragen wie „Gesundheit als Pflicht?“ und diskutiert das Dilemma der Gesundheitsförderung. Hier scheint einer das Wort zu ergreifen, der auch ein Essender ist und nicht nur ein anweisender Theoretiker im weißen Kittel.
Aber warum macht er das? Er fühlt sich verpflichtet, gesellschaftlich Stellung zu beziehen. „Adipositas wird unglaublich diskriminiert. Hier bin ich auf Mission, um das etwas anders zu konzipieren.“ Denn moralisch sollte Adipositas nicht verurteilt werden. Schließlich leben wir alle im Schlaraffenland und die evolutionäre Programmierung schaltet nicht innerhalb von 100 Jahren um. Der Mensch ist genetisch darauf angelegt, Fett einzuspeichern. Heute gilt das als adipös. Und hier müssen die Betroffenen entlastet werden.
„Ich wurde mal gebeten, im Rahmen einer Herz-Kreislauf Präventionsstudie eine Intervention zu Adipositas zu konzipieren. Und in diesem Zusammenhang habe ich eine Geschichte über die Adipositasforschung geschrieben.“ Damit hatte Klotter sich wohl selbst die Augen geöffnet, denn er sagt, dass der gesellschaftliche Blick auf das Thema wie wir ihn heute vertreten, eine Erscheinung unserer Zeit sei, vor allem geprägt in den 1970er Jahren. Und das sei falsch und täte niemandem gut. „Aus diesen Selbstverständlichkeiten müssen wir ausbrechen.“
Für Klotter ist der Begriff „adipös sein“ an sich schon eine Farce.
Er will bei seinem Kampf gegen das schlechte Image vom Dicksein ein Gegenbild zeichnen. Für ihn ist der Begriff „adipös sein“ an sich schon eine Farce (sogar Zweijährigen werde vermittelt, sie seien zu dick). Außerdem könne niemand beweisen, dass dicke Menschen automatisch ungesünder seien als dünne und überhaupt sei es schwierig, eine Definition für Dicksein zu finden. „Das ist etwas höchst individuelles.“
Professor J. Christoph Klotter ist ein Kombinierer. Er bringt bei seinen Forschungsarbeiten verschiedene Disziplinen wie Psychologie, Kulturwissenschaft oder Soziologie zusammen, um nicht nur sich selber, sondern allen Menschen eine horizontlose Sicht auf das Dicksein/Dünnsein/Falschsein/Richtigsein zu gewähren.

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Der Kombinierer hat herausgefunden, dass diejenigen, die sozial bedroht sind, mit Essen versuchen zu überleben. „Das ist ein angeborener Mechanismus. Denn es kann ja sein, dass ich morgen kein Geld mehr habe, dass Hartz IV abgeschafft wird oder dass ein Krieg ausbricht.“
Und dahinter stehen letztendlich Emotionen. Sie lösen das essen aus. Essen bedeutet Teilhabe am Wohlstand. „Wer sich den teuren Wagen nicht leisten kann, kauft sich den Schokoriegel. Das Süße und das Fette sind Symbole für dabei-sein-können.“
Dick sein wird gleichgesetzt mit: morgen tot sein
Klotter hat festgestellt, dass unterschiedliche Lebenslagen auch unterschiedliche Perspektiven auf das eigene Leben gewähren. Wer gesund ist und Perspektiven hat, achtet eher auf seine Gesundheit als derjenige, der arbeitslos ist und krank. Der schaue auf den Augenblick und nicht so sehr in die Zukunft.
Der Glaubenssatz: Dick sein gleich morgen tot sein und den anderen auf der Tasche liegen – funktioniert nicht mehr.
Herr Professor Klotter, wann ist man denn adipös? „Üblicherweise wird der BMI herangezogen. Der ist jedoch wissenschaftlich gar nicht haltbar. Adipositas ist etwas sehr individuelles, das kann man nur individuell bestimmen. Es gibt Adipöse, die physiologisch völlig unauffällig sind. Die haben keine Merkmale, dass sie ungesund sind. Der Glaubenssatz: Dick sein gleich morgen tot sein und den anderen auf der Tasche liegen – funktioniert nicht mehr.“
Doch leider sind wir seit rund 2.500 Jahren von der Idee der Mäßigung geprägt. Eine der wichtigsten Tugenden in der Frühantike war das rechte Maß. Nur derjenige ist ein vernünftiger Bürger, der sich weiß zu mäßigen, weil er Herr über seine eigene Natur ist. Dann kann er die Geschicke der Polis mitleiten. Wer maßlos ist, neigt zur Tyrannei. „Hier haben wir es mit einem politischen Konzept zu tun.“ Den Adipösen wird unterstellt sie seien maßlos, was sie definitiv nicht sind.
Später kam dann durch die Kirche der Begriff der Sünde hinzu. Und heute, da die Kirche ihren Einfluss verloren hat, hat das Schlankheitsideal als Verkörperung der Mäßigung das Zepter übernommen. Und so wird – im heutigen post-christlichen Zeitalter – die Idee der Mäßigung noch immer aufrechterhalten. Und leider hält sich sogar unter klugen Menschen das Vorurteil, dass nur Schlanksein gut ist. Das ist leider common sense.“
Ausflug in die Geschichte -Die Norm des Dickseins/Dünnseins hat sich radikalisiert und ist im 20 Jahrhundert sukzessive gesunken. Das war dem Zeitgeist verantwortet und nicht der Gesundheit. „Das hatten die entsprechenden Autoren auch immer gesagt.“ In den Wohlstandsjahren war der dicke Bauch wichtig. Der war Ausdruck von Wohlstand und Überleben. Der wohlbeleibte Bauch ist in allen Gesellschaften, die von Hunger geprägt sind, sehr positiv besetzt.
Übrigens: die Franzosen und Italiener sind führend in der Dünnheit; auch die Osteuropäer sind eher dünn – noch vor den Deutschen. Wohl sind die Adipösen auch im europäischen Ausland die einzige Gruppe, die sich nicht gegen ihre Diskriminierung wehren (können). „Weil sie ja die gleichen Denkmuster wie die anderen haben. Sie finden ja selbst, dass die anderen wohl Recht haben mit ihrem Urteil über das Dicksein. Das empfinde ich als einen Skandal.“ Und auf die Frage, ob der da oder die da adipös ist, antwortet Klotter differenziert und meistens nicht mit einem klaren Ja.
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